Monthly:Oktober 2016

Der Korrekte Sitz beim Reiten – wozu?

„Erst wenn der Sitz im Gleichgewicht erlangt ist, darf daran gedacht werden, den Schülern die Hilfegebung beizubringen.“ (Reitlehre von heute, 1956 von Waldemar Seunig)

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Der korrekte Sitz ist die Voraussetzung für die richtige Hilfengebung.

 

Wenn man sich die endlos vielen Fachbücher anschaut, findet man überall Hinweise und Erklärungen zum korrekten Sitz und seiner Bedeutung für die Reiterei allgemein und die Ausbildung des Reiters und seines Pferdes im Speziellen.

Da wird vom Spaltsitz oder vom Stuhlsitz gesprochen, heute auch üblich vom zu weit nach hinten verlagerten Oberkörper oder vom Kopf, der nicht so nach vorne gestreckt werden soll, wie man es bei einem Geier beobachten kann.

Wenn man zu Reiten beginnt, sollte der korrekte Sitz gelehrt werden. In vielen Reitschulen wird das auch getan. Selbst wenn die gesamte Sitzschulung leider all zu oft auf den tiefen Absatz und die Position der Hand reduziert wird. Hat man das Anfängerniveau hinter sich gelassen, kommt eigentlich nur in ganz wenigen Fällen noch eine Anmerkung zum Sitz.

Komisch eigentlich, wenn die Literatur doch immer schreibt, er sei die Basis allen Reitens!

Fährt man auf einen durchschnittlichen Lehrgang, betrachtet sich die Reiter im Gelände oder auf dem internationalen Parkett, dann scheint die Rolle eines korrekten Sitzes offenbar eher eine Unbedeutende, auch wenn die Literatur das glatte Gegenteil behauptet. Vielleicht ist die Literatur ja veraltet oder man muss bei dem heute so hochwertigen Pferdematerial nicht mehr korrekt sitzen?! Die Pferde laufen doch alle – irgendwie…

Die Entwicklung des heutigen Sitzes ist hunderte von Jahren alt und wurde von all’ den großen Könnern der Vergangenheit entwickelt, da man Reiten erst dann zur Reitkunst erheben kann, wenn man ihn wirklich beherrscht. Der Sitz des Reiters wirkt auf so vielfältige Weise auf das Pferd, seine Bewegungen und seine Psyche ein, dass man sich intensiv damit beschäftigen muss, um überhaupt zu erkennen, wie wichtig er ist!

Es ist naiv zu glauben,

  • Sich selbst und sein Pferd im Gleichgewicht halten zu können,
  • Lektionen wirklich korrekt ausführen zu können,
  • Hilfen korrekt erteilen zu können,
  • ein Pferd zur Losgelassenheit bringen zu können,
  • ohne Krafteinsatz und Druck arbeiten zu können
  • gefühlvoll einwirken zu können
  • Verspannungen vermeiden zu können,
  • es schlussendlich gesund erhalten zu können,

ohne einen korrekten Sitz haben zu müssen. Jeder kleine Fehler wirkt sich schon negativ auf die Losgelassenheit eines Pferdes aus, denn die kleinste Abweichung vom korrekten Sitz hat Folgen. Reiter und Pferd verspannen sich, das Pferd muss beispielsweise die durch Sitzfehler entstehenden Gewichtsverlagerungen seines Reiters mit einem veränderten Bewegungsablauf abfangen.

„Sich in jeder Lage richtig tragen lassen zu können, ist vielleicht das Hauptkunststück in der Reiterei. Dazu gehört vor allem ein ruhiger, geschmeidiger und auch fester Sitz (heute würde man „fester Sitz“ als „geschlossenen Sitz“ bezeichnen). Jede große Abweichung von dessen als richtig erkannter allgemeiner Grundform wird einen Fehler in der Einwirkung und demzufolge im Gehen des Pferdes nach sich ziehen.“  (Gustav von Dreyhausen, „Grundzüge der Reitkunst“, 1936)

 

Der Kopf des Reiters

Man sieht heute sehr viele Reiter, die ihren Kopf beim Reiten nach Vorne strecken und damit auf und nieder wackeln. Dabei wird die Vorhand des Pferdes, die sowieso schon einen Hauptteil des Körpergewichtes tragen muss, mit zusätzlichen 6-9 kg Gewicht belastet. Streckt der Reiter den Kopf nach vorne, verspannt er sich im Hals, in der Schulter, in den Armen, im Oberkörper, teilweise bis in die Beine hinein. Er kann also nicht mehr unverspannt in der Bewegung des Pferdes mitschwingen. Er blockiert sie. Die verspannte Schulterpartie verhindert unter anderem die Halbe Parade. Im Gegenteil, es bleiben einem nur mehr oder weniger ruckartige Bewegungen, da die Arme mit der verspannten Schulterpartie mit wippen und die Hand dadurch auch nicht mehr unabhängig vom Sitz gefühlvoll und elastisch führen kann. Das wiederum führt zu Problemen beim Pferd. Verspannungen schleichen sich ein, der Bewegungsablauf verändert sich. Das Pferd kompensiert …. Und das nur durch den Kopf des Reiters.

 

Nach hinten verlagerter Oberkörper

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Ein so weit nach Hinten verlagerter Oberkörper führt zu massiven Verspannungen und zu Schmerzen beim Pferd…

 

Lehnt sich der Reiter im Oberkörper zu weit nach hinten, entstehen mehrere Probleme gleichzeitig:

  1. die gesamte Einwirkung auf das Pferd ist fehlerhaft.
  2. Korrekte Gewichtshilfen werden außer Kraft gesetzt.
  3. Der Rücken des Pferdes übermäßig belastet. Damit verspannen sich automatisch auch die Muskeln der Hinterhand, des Bauches des Halses.
  4. Der Reiter hat eine harte und unnachgiebige Hand.
  5. Gefühlvolle halbe Paraden sind nicht mehr möglich.
  6. Der Reiter klemmt mit den Oberschenkeln.
  7. Der Reiter treibt schiebend mit dem Oberkörper, wodurch das Pferd noch mehr verspannt.
  8. Das Becken des Reiters ist blockiert.
  9. Die Schenkelhilfen verkommen zu einem Klopfen und Hacken.
  10. Der Reiter verkrampft sich zwangsläufig im ganzen Körper.
  11. Die Anlehnung geht verloren, meist kommt es zu absoluter Aufrichtung oder
  12. einem falschen Knick, die Nase kommt weit hinter die Senkrechte.

Das Ergebnis eines so fehlerhaften Sitzes sind Pferde, die die Vorderbeine  verspannt nach oben reißen und die Hinterbeine nicht mehr „aus dem Sand kriegen“. Pferde, die sich marionettenhaft bewegen (müssen).

„… es gibt sehr viele Reiter, die fortgesetzt mit dem Oberleib treiben, den Moment des Herankommens an den Zügel und des notwendigen Vortreibens mit dem Schenkel übersehend mit noch weiter zurückgelegtem und noch stärker treibenden Oberleib nach weiter treiben wollen und damit in die Hand rollende Pferde erzeugen…“ (Gustav von Dreyhausen, „Grundzüge der Reitkunst“, 1936)

 

Nach Vorne fallen

Fällt der Reiter mit dem Oberkörper permanent nach vorne, hat auch das Auswirkungen auf das Pferd und in den allermeisten Fällen langfristig gesundheitsschädigende Folgen. Die Vorhand des Pferdes trägt von Natur aus 55% des Körpergewichtes. Wenn sich der Reiter permanent nach vorne lehnt,

  1. kommt das Pferd noch mehr auf die Vorhand, da die meisten Reiter dann nicht mehr in der Lage sind, das Hinterbein aktiv zu halten.
  2. Entweder hängen die Zügel durch, die Verbindung zum Pferdemaul geht verloren oder
  3. die Reiter ziehen die Zügel auf ihre Oberschenkel.
  4. Korrekte Einwirkung ist nicht möglich
  5. Das Pferd kommt aus dem Gleichgewicht.
  6. Die Hinterhand verliert an Schubkraft.
  7. Das Pferd verspannt.
  8. Es kommt zu Verspannungen, Rückenproblemen etc.

Die Argumentation, den Rücken durch diese Reitweise zu entlasten, ist falsch. Auch bei dieser Reitweise wird das Pferd durch die fehlerhafte Gewichtsverlagerung und falsche Einwirkung langfristig geschädigt, der Rücken also nicht entlastet. Zwar mag es sein, dass ein Pferd, das zum Beispiel Rückenschmerzen hat, im ersten Moment durch diese Reitweise eine Entlastung empfindet, weil sich die fehlerhafte Reiterbelastung vom Rücken nach vorne verlagert. Da aber durch diese Reitweise unter anderem der Schwung aus der Hinterhand verloren geht, die korrekte Anlehnung aufgegeben wird, kommen nicht nur die Rückenprobleme wie ein Bumerang zurück.

Udo Bürger schreibt in seinem Buch „Vollendete Reitkunst“ dazu: „Der gute Reiter sitzt ungezwungen gerade, die Arm- und Handhaltung ist zwanglos wie bei Tisch. Mit den Zügeln wird so elegant und ohne Kraftanwendung umgegangen wie mit Messer und Gabel… Die Hauptstörungsquelle für die Tätigkeit der Rückenmuskulatur ist der fehlerhafte Sitz des Reiters…“

 

Verkrampft auf dem Pferd

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Verkrampfter Reiter – verkrampftes Pferd!

 

Ein Reiter, der sich auf dem Pferd nicht entspannen kann, der sich verkrampft, zeigt immer Sitzfehler. Auch das Pferd kann sich dadurch nicht mehr loslassen. Die Bewegungen werden hart und unelastisch. Viele Pferde haben in diesen Fällen einen unbequemen Wurf, der reine Takt geht verloren, schwungvolle Bewegungen sind nicht zu beobachten. Durch diese zwangsläufig entstehenden Verspannungen des Pferdes entsteht ein Teufelskreis, der zur Folge hat, dass sich der Reiter immer mehr mit den Oberschenkeln festklemmen muss, sich immer mehr verkrampft, sich am Zügel festhält. Die Hand des Reiters wird hart und unnachgiebig. Maul, Kiefer und Genick des Pferdes werden schmerzhaft überlastet.

 

Absätze hochziehen, die Knie hochziehen

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Hochgezogene Knie und Absätze machen eine gefühlvolle Einwirkung unmöglich.

 

Zieht der Reiter permanent den Absatz und das Knie nach oben, spannt er die Beinmuskulatur fehlerhaft an, die Stellung des Beckens verändert sich. Durch die veränderte Stellung des Beckens entstehen Verspannungen in Bauch und Oberkörper, die ein Mitgehen in der Bewegung des Pferdes unmöglich machen. Das Ergebnis ist, dass sich der Reiter auch bei dieser Sitzform mit den Oberschenkeln am Sattel festklemmt. Losgelassen ist auch das Pferd so nicht.

Unterschenkel permanent zu weit hinten

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….wirkt der Reiter nicht mehr richtig ein. In der Mitte des Pferdebauches – so sieht man die Unterschenkel verschiedener international erfolgreicher Reiter liegen – soll der Schenkel nicht einmal positioniert sein, wenn man ihn verwahrend einsetzt. Welche Aufgabe mag er da wohl noch wahrnehmen können? Vortreiben kann er nicht, verwahrend wirken kann er auch nicht. Er kann das Pferd eigentlich nur noch schief machen, wenn er zum Einsatz kommt. Dadurch, dass sich durch einen soweit nach hinten verlagerten Schenkel wiederum auch der Sitz verändert, werden Muskeln des Reiters fehlerhaft angespannt, das Pferd kann sein Hinterbein nicht mehr fleißig und aktiv abfußend nach vorne schwingen lassen.

 

Die richtige Bügellänge

….gehört genauso zum korrekten Sitz, wie die richtige Handhaltung zur gefühlvollen Verbindung zum Pferdemaul!

Wenn man sich die großen Reiter der Vergangenheit anschaut, waren deren Bügel meist viel kürzer geschnallt, als man es heute beobachten kann. Fragt man einen Reiter, warum seine Bügel so lang sind, kommt oft die Aussage: „Da ich dann viel tiefer im Pferd sitzen kann!“ Kann er das wirklich? Aus biomechanischen Gesichtspunkten steht der zu lange Bügel einem korrekten Sitz eher im Wege. Denn je länger der Bügel, umso mehr verändert sich die Beckenstellung des Reiters, der Reiter muss ein Hohlkreuz machen und die Unterschenkel kommen dann meist zu weit nach hinten. Außerdem kommt der Reiter ab einen gewissen „über“Länge-der-Bügel mit den Unterschenkeln nicht mehr korrekt ans Pferd. Die Beine schwingen bei jedem Trabtritt sehr weit vom Pferdekörper ab. Das Bein ist überstreckt und damit geht einmal mehr die Einwirkung verloren.

 

Die Hand zu hoch oder zu tief

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Ein fehlerhaft nach unten gedrückte Hand führt zu Verspannungen und zu Schmerzen beim Pferd.

 

Die Position der Hand. Ob zu hoch oder zu tief. Reiter und Pferd verspannen sich gleichermaßen. Ist sie zu hoch kommt die Nase hinter die Senkrechte und es entsteht der heute so übliche falsche Knick. Kommt sie zu tief drückt das Pferd gegen die Hand, denn der schmerzhafte Druck auf die Zunge des Pferdes wird zu groß.

 

Man könnte jetzt noch Seiten mit Sitzfehlern und ihren Auswirkungen auf die Einwirkung auf das Pferd füllen, wir kämen immer wieder zu einem Ergebnis:

Nur wer korrekt im Schwerpunkt des Pferdes im Gleichgewicht losgelassen in der Bewegung mitschwingen kann, kann sein Pferd richtig reiten.

Ganz so wie es Egon von Neindorff in seinem Buch „Die reine Lehre der klassischen Reitkunst“ formuliert hat:

„Der von der Reitvorschrift geforderte Sitz ist auf dem Gangmechanismus des Pferdes aufgebaut. Daher ist nur er der natürliche und einzig richtige. Er ist keine Erfindung, sondern er hat sich aus der jahrhundertealten Erfahrung der jeweils besten Reiter entwickelt. Er bildet als die Grundlage für alles Reiten. Ist es der Zeitgeist, der sich zum Zeitgeiz entwickelt hat? Ist es Überheblichkeit, ein nicht Wahrhabenwollen des eigenen Nichtkönnens? Ist die Versuchung bei der jetzigen, dem Reiter entgegen kommenden Pferdezucht zu groß, einfach auf die so wichtige Basis zu verzichten? Ist es die fehlende Demut und ein Nichtkönnen oder –wollen? Glaubt man, die fortgeschrittene Technik kann die Basis ersetzen? Ist eben doch das Einfachste das Schwerste? Wenn jedoch der Respekt vor der Kreatur und der Natur  mit ihren Gesetzen verloren geht, ist der Weg verlassen – die Missachtung wird Folgen tragen.“

Wie wahr, wie wahr….

 

 

Die endlose Diskussion über die Anlehnung

Warum braucht man beim Reiten eine Anlehnung, wenn unter fein und leicht verstanden wird, dass man keine Verbindung zum Pferdemaul benötigt? Sind eine stete Anlehnung und das Gebiss im Maul für das Pferd am Ende schmerzhaft? Sollte man das Gebiss vielleicht besser heraus nehmen? Oder wenigstens den Nasenriemen entfernen, damit das Pferd weniger Schmerzen hat? So viele Fragen entstehen durch diese endlosen Diskussionen über FEIN und LEICHT und NICHT FEIN.

 

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Ist das auf dem Foto demonstrierte jetzt fein oder am Ende grundlegend verkehrt? So ist es falsch! Keine Verbindung zum Pferdemaul, die Zügel hängen durch. Das Pferd kann sich nicht vom Gebiss abstoßen und so den Rücken nicht hergeben, sich nicht loslassen. Es wird sich mit der Zeit verspannen (müssen).

 

So wie die Rollkur in den letzten Jahren zu einem brandheißen Thema geworden ist, entwickelt sich die Diskussion über die Anlehnung mindestens genauso kontrovers. Die einen vertreten die Meinung, dass Anlehnung nur korrekt ist, wenn die Nase hinter der Senkrechten ist, bei dem nächsten muss sie AN der Senkrechten sein. Dann gibt es Vertreter, die sprechen noch von korrekter Anlehnung wenn das Pferd in absoluter Aufrichtung und weg gedrücktem Rücken geht.  Wieder andere glauben, dass man sie gar nicht braucht, es sein denn, man will parieren. Wenn das Pferd dann den Kopf irgendwie nach vorne streckt, sprechen diese Menschen dann auch noch von Selbsthaltung.

Um diese Fragen wirklich nachvollziehbar beantworten zu können, machen wir einen Ausflug in die funktionelle Anatomie und in die Reitlehre (überlieferte Grundsätze der Ausbildung).

 

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Sind das jetzt eine korrekte Anlehnung und die richtige Aufrichtung? Die Nase ist eigentlich an der Senkrechten! Auch das ist falsch! Die Hand der Reiterin ist zur Demonstration zu hoch. Die Unterschenkel nicht am Pferd, Oberkörper zu weit nach hinten verlagert. Die Reiterin verspannt sich dadurch. Das Pferd ebenso. Das sieht man am verspannt weg gedrückten Schweif, am nicht mehr aktiv abfußenden Hinterbein, am dadurch verspannten Rücken, am Ohrenspiel.

 

Anlehnung aus biomechanischer Sicht betrachtet

Biomechanisch ist das eigentlich ganz schnell erklärt: Das Pferd hat den Motor hinten und der schiebt das Pferd mit dem Schwung aus der Hinterhand noch vorne. Den Schwung braucht das Pferd, damit sich alle Muskeln entspannt ab- und anspannen können, sich korrekt entwickeln können. Um den Schwung zu nutzen, der im Zuge der Ausbildung entwickelt werden soll, damit das Pferd auch langfristig gesund bleiben kann, gehört zu einem gut aufgebauten Training ein korrekter Mitteltrab genauso dazu wie ein frischer Galopp. Dazu muss sich das Pferd allerdings schon tragen können / ausreichend Kraft haben, sonst würde es beispielsweise bei der Trabverstärkung hinten breit treten, ans Laufen kommen, auf die Vorhand und beim Tempo aufnehmen unter dem Reiter ausweichen. Wenn die Muskulatur dafür also ausreichend entwickelt ist, kann mit diesen Übungen alles einmal richtig gelockert werden. Erstens pustet das die Lunge kräftig durch und zweitens werden alle Muskeln mit dem notwendigen Sauerstoff versorgt und gut durchblutet, … wenn die Anlehnung stimmt. Der sich so mit der Zeit entwickelnde Schub aus der Hinterhand muss irgendwie auch aufgefangen werden, sonst liefe das Pferd auseinander gefallen vor sich hin, der Schwung würde ins Leere gehen. Damit das nicht passiert, braucht das Pferd die Anlehnung, den Kontakt zwischen Reiterhand und Pferdemaul. Die Anlehnung am Gebiss muss also vorhanden sein. Korrekte Anlehnung bedeutet, dass der Reiter einen leichten Druck auf dem Zügel spürt, wobei die Betonung auf LEICHT liegt. Anlehnung bedeutet also weder grobes Zerren, noch Tonnen auf der Hand, noch die Nase mit aller Macht vor die Brust zu ziehen. Im Zuge dieser Entwicklung lernt das Pferd in Selbsthaltung zu gehen.

Selbsthaltung:
Unter Selbsthaltung wird nicht die Haltung des Pferdes auf der Weide verstanden. Selbsthaltung ist ein Begriff, der in der Reitlehre lange vor unserer Zeit definiert wurde. Ein Pferd geht in Selbsthaltung, wenn es sich trägt. Das heißt, es ist unter dem Reiter bei allen Übungen und Lektionen im Gleichgewicht, in korrekter relativer Aufrichtung mit aktivem Hinterbein und einer konstanten Anlehnung. Ein Pferd, das losgelassen und durchlässig auf die Hilfen des Reiters reagieren kann. Wenn alles das gegeben ist, spricht man von Selbsthaltung – nur dann!

 

Gegenhalten und Nachgeben

Das häufig verwendete Wort „Gegenhalten“ heißt in diesem Zusammenhang nicht mit aller Kraft ziehen und „Nachgeben“ heißt nicht, die Verbindung zum Pferdemaul aufzugeben. Mit Gegenhalten will man erreichen, dass das Pferd im Genick nachgibt. Gegenhalten bedeutet also nur den Druck des Pferdes gegen das Gebiss am ruhigen Sitz und an der steten und ruhigen Hand auszuhalten. Damit dieses Gegenhalten nicht von vorne nach hinten wirkt – was entstehen würde, wenn die Hand hart rückwärts wirken würde – ist es unerlässlich, dass der Reiter sein Pferd gegen diese gegenhaltende Hand mit Treiben immer wieder zum Untertreten veranlasst.  So wird es sich allmählich, sobald die Hinterhand aktiv wird und unter den Schwerpunkt tritt, das Gebiss annehmen, sich davon abstoßen und im Genick nachgeben. Das alles muss mit dem notwendigen gefühlvollen Einwirken erfolgen und der Reiter muss augenblicklich nachgeben sowie er ein Nachgeben des Pferdes fühlt.

Nachgeben heißt jedoch nicht, die Zügel wegzuwerfen, sondern mit der inneren Hand ca.  2-3 cm vorzugeben und zwar nur soviel, dass der Zügel nicht springt. Denn dann entsteht beim erneuten Zügelaufnehmen ein zu vermeidender harter Druck auf das Pferdemaul. Um gefühlvoll, Zügel anstehen, aufnehmen, annehmen und nachgeben zu können, ist der korrekte Sitz die Basis. Das heißt, unabhängig von der Hand – sich nicht am Zügel festhaltend – elastisch im Gleichgewicht im Pferd zu sitzen. Ist dieser korrekte Sitz nicht gegeben, funktioniert auch das gesamte System Anlehnung nicht und bleibt graue Theorie.

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Das Pferd nimmt das Gebiss nicht an. Die Reiterin zieht die Hände zur Demonstration vor den Bauch. Auch ein Verkürzen des Zügelmaßes wäre bei diesem Anlehnungsproblem falsch. Der Reiter sollte sein Pferd fleißig vorwärts reiten ohne zu eilen bis das Pferd mit dem Hinterbein wieder durchtritt und das Gebiss bei vorgelassenem Hals wieder annimmt.

 

Anlehnung ist eine stete Verbindung zum Pferdemaul und wird von halben Paraden begleitet. Halbe Paraden kann man nur geben, wenn eine korrekte Anlehnung vorhanden ist. Ohne Verbindung zum Pferdemaul gehen halbe Paraden ins Leere.

 

Die Halben Paraden

Halbe Paraden sind beim Reiten sehr wichtig. Im Parcours, in der Vielseitigkeit, beim Freizeitreiten und in der Dressur. „Halbe Paraden werden am äußeren Zügel gegeben, um zu erreichen:

  1. Pferde im Genick zum Nachgeben und zum Fallenlassen des Halses aufzufordern.
  2. Gangart und Tempo zu verringern, zu regulieren und das Gebiss anzunehmen.
  3. Neue Lektionen und Übergänge einzuleiten.
  4. die Versammlung zu verbessern, zu erhalten und die relative Aufrichtung zu erreichen.

Jede halbe Parade endet mit Nachgeben – vermehrt mit der inneren Hand – für den Zuschauer immer undeutlicher (kaum noch zu sehen), für das Pferd immer deutlicher (da es im Zuge einer korrekten Ausbildung auf immer feinere halbe Paraden reagieren kann)“. (Paul Stecken, 2011)
Fazit: Die Anlehnung steht in direkter Verbindung – so wie es die Reitlehre sagt – zu dem korrekten Sitz, der Schwungentwicklung, der Losgelassenheit, der Geraderichtung, der Versammlung, dem korrekten Sitz, der Einwirkung des Reiters und natürlich mit der Gesunderhaltung des Pferdes.

 

Reiten ohne Gebiss – die Lösung?

Würde man sein Pferd ohne Gebiss reiten, wäre eine Anlehnung im Sinne der Reitlehre (überlieferte Grundsätze der Ausbildung) nicht möglich. Denn – und damit kommen wir wieder zu dem wichtigen Punkt Anlehnung der Skala der Ausbildung – nur dann ist eine Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul möglich. Das Pferd nimmt das Gebiss an und beginnt zu kauen. Es lernt, die Anlehnung zu suchen, sich in der weiteren Ausbildung, vom Gebiss abzustoßen und so an die Hand heranzutreten. Zusätzlich unterstützt diese Verbindung das Gleichgewicht unter dem Reiter. Nur das gewährleistet, dass das Pferd von hinten nach vorne durch den Körper schwingt, die Hinterhand aktiv werden kann, das Pferd feinste Hilfen akzeptieren kann. Ohne Gebiss kaut ein Pferd auch nicht. Abkauen dient allerdings auch der Entspannung. Zufriedenes Kauen heißt, dass sich Muskeln an Kopf und Genick entspannen können. Wenn das Pferd sich dem entgegen am Kopf verspannt, was ohne Gebiss in den meisten Fällen der ist, verspannt sich in der Folge der gesamte Körper. Das Gebiss animiert das Pferd immer dann zu entspannendem Abkauen, wenn die Reiterhand entsprechend gefühlvoll und elastisch der Bewegung des Pferdes folgen kann.

Beim Reiten ohne Gebiss haben wir quasi ein unterbrochenes System, bei dem aufgrund von Verspannungen und falschen Belastungen schnell Überlastungen von Muskeln, Sehnen, Bändern und Gelenken werden können. Betrachtet man Pferde, die ohne Gebiss geritten werden, strecken sie den Hals oftmals sehr weit nach vorne. Das hat dann nichts mit Dehnungshaltung zu tun, sondern ist in den meisten Fällen ein Versuch eines Pferdes, darüber seinen verkrampften Rücken zu entlasten.

Dehnungshaltung!

Von Dehnungshaltung spricht man immer dann, wenn das Pferd das Gebiss annimmt und sich die Nase bei ausreichend langem Zügel an der Senkrechten befindet. Dehnungshaltung reduzuiert sich nicht nur auf das Zügel aus der Hand kauen lassen, denn der Hals muss bei allen Übungen und Lektionen, in allen Grundgangarten ausreichend vorgelassen werden. Um eine korrekte Dehnungshaltung erreichen zu können, ist die korrekte Verbindung zum Pferdemaul – die Anlehnung – unerlässlich. Nur darüber kann das Pferd in Dehnungshaltung mit aktivem Hinterbein von hinten nach vorne durch den Körper schwingen.

Streckt sich ein Pferd beispielsweise am Halfter an der Longe nach vorne, hat das nichts mit dem in der Reitlehre definierten Begriff der Dehnungshaltung zu tun. Offen gesagt, fällt das Pferd dann nur auseinander!

 

Mit oder ohne Nasen- und Sperriemen?

Eine weitere Fehleinschätzung ist es zu glauben, dass die Wirkung des Gebisses auf das Pferdemaul feiner wirkt, wenn man Nasen- und Sperriemen weglässt. Das Gegenteil ist der Fall: Vor allem beim Durchparieren wird der schmerzende Druck besonders groß, denn durch den fehlenden Nasen- und Sperriemen wirkt das Gebiss bedeutend schärfer und direkt auf das Maul! Viele Pferde sperren dann aus Unwohlsein und Schmerz das Maul auf. Sie versuchen, dem Druck darüber zu entgehen!  Hat ein Reiter zusätzlich eine unruhige Hand,  das heißt, kann er nicht unabhängig von der Hand sitzen, elastisch mit dem Pferd mitschwingen, kommt oft aus dem Gleichgewicht und hält sich am Zügel fest, dann wird es für das Pferd zu einer andauernden Tortur. Nur durch die korrekte Verschnallung einer Trense oder Kandare liegt das Gebiss ruhig im Pferdemaul, wird der Druck vom Gebiss auf den Nasenriemen / Nasenrücken verlagert. Bei richtiger und lockerer entsteht kein schmerzhafter Druck. Zu viel Druck, Schmerz entsteht dann nur, wenn der Nasenriemen zu eng verschnallt, das Maul mit dem Sperriemen zugeschnürt wird. Das Aufsperren kann man mit dem Zuschnüren des Maules zwar mechanisch unterbinden, aber ein aufgesperrtes Maul hat seinen Hintergrund immer in reiterlichen Fehlern. Eine zu harte, rückswärtswirkende Hand, ein fehlerhafter Sitz, fehlerhafte Einwirkung.

Auch Zungenfehler haben ihren Ursprung häufig in einer fehlerhaften Verschnallung, einem unpassenden Gebiss und vor allem in einer fehlerhaften Einwirkung durch den Reiter.

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Korrekt verschnallte Kandare / Trensen. Nasenriemen sind so locker verschnallt, dass man zwei Finger dazwischen schieben kann. Die Gebisse liegen korrekt im Maul, Kinnkette / Sperriemen sind weder zu fest oder zu locker. Die Pferde sind beide entspannt!

 

Die Anlehnung ist wichtig, damit das Pferd den Rücken hergeben kann und sich loslassen kann. Um das zu erreichen braucht man einen korrekten Sitz. Anlehnung erreichen und Fehler korrigieren kann man nie mit der Hand allein, sondern immer nur aus dem korrekten Zusammenwirken der Hilfen – nämlich Gewichts-, Schenkel- und Zügelhilfen und das genau in der Reihenfolge! Dann fühlt sich das Pferd wohl und schnaubt zufrieden und entspannt ab. Dann es hat Spaß an seiner Bewegung unter dem Reiter und reagiert auf kleinste Hilfen!

Halbe Paraden – sie sind so wichtig!

Im letzten Jahr habe ich in einem Artikel die Halben Paraden erwähnt und sie für einen bestimmten Absatz  mit der Unterüberschrift „Halbe Paraden“ versehen. Die Lektorin verbesserte diese Unterüberschrift in „Halbe Paraden reiten“. Damit hatte sie leider weder den Inhalt des Absatzes verstanden, noch war ihr bewusst, dass ihre Korrektur mit dem Text der darunter stand, eigentlich nichts mehr zu tun hatte.
Beim erneuten Korrekturlesen meines eigenen Artikels war ich darauf hin mehr als verschnupft. Denn Halbe Paraden reiten und Halbe Paraden geben sind ein Himmelweiter Unterschied….

Herr Stecken pflegt zu sagen: Halbe Paraden werden alle zwei bis drei Schritte, Tritte oder Sprünge gegeben; vermehrt am äußeren Zügel und enden mit einem gefühlvollen Nachgeben der inneren Hand. Für das Pferd werden sie im Laufe einer guten Ausbildung immer deutlicher und für den Betrachter immer weniger zu erkennen, da man sie immer gefühlvoller geben kann. Irgendwann kann sie der Zuschauende komm noch sehen.
Halbe Paraden dienen der Genickkontrolle, der Hinterhandkontrolle, der Tempokontrolle. Man braucht sie zum Einleiten und Beenden von Übungen und Lektionen, für den Handwechsel für alle versammelnden Lektionen genauso wie für die Verstärkungen.

Schaut man sich heute Lehrvideos an, liest Fachbücher und beobachtet gängigen Reitunterricht, dann ist die Halbe Parade allerdings verschwunden. Nicht selten wird sie überhaupt nicht mehr erwähnt. Braucht man sie bei den heute so leistungsbereiten Pferden mit ihren guten Hälsen und dem nahezu perfekten Gebäude nicht mehr oder wurden sie einfach im Laufe der Zeit vergessen, da die Pferde heute so rittig und gutmütig sind, dass sie im Genick auch der ohne irgendwie nachgeben – irgendwie….

Die halbe Parade ist aber nicht nur eine reine Zügelhilfe. Sie steht in Verbindung mit Sitz und Einwirkung. Ohne ein Anspannen der notwendigen Beckenmuskeln, ohne ein Aufrichten des Oberkörper, ohne einen im Schwerpunkt sitzenden Reiter und ohne Schenkelhilfen, die nur dann gegeben werden können, wenn der Unterschenkel der jeweiligen Lektion entsprechend an der richtigen Stelle liegt, funktioniert eine Halbe Parade NICHT und das Pferd wird sich im Laufe der Zeit dauerhaft verspannen.

Je korrekter die Hilfen, umso besser ist die Einwirkung!

Das Zusammenwirken der Hilfen ist das A und O. Ist man nicht in der Lage Gewichts-, Schenkel- und Zügelhilfen in Verbindung mit einem möglichst korrekten Sitz auf einander abzustimmen, beherrscht die Halben Paraden nicht, setzt sie nicht zu passenden Zeit in der richtigen Dosierung ein, wird das unvermeidbar zu Problemen beim Reiten und in der Ausbildung führen.

Dennoch scheinen die halben Paraden an Bedeutung zu verlieren. Denn um sie gefühlvoll geben zu können, ist die korrekte Handhaltung, die elastisch aus dem Ellenbogen kommende Bewegung unverzichtbar. Bei Haltungsfehlern und einem verspannten Sitz funktioniert das dann nicht mehr!

 

Fehler bei der Hand bedeutet immer: Halbe Paraden erfolgen nicht mehr korrekt und gefühlvoll!

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Die Handhaltung ist nicht korrekt. Die Hände etwas zu hoch, leicht nach innen gekippt, zu breit geführt. Keine gerade Linie vom Ellenbogen zum Pferdemaul. Dadurch ist das Handgelenk nicht mehr locker und der Reiter verspannt sich – auch wenn es ihm nicht bewusst ist – in der Schulterpartie. Das Vorgeben aus dem Ellbogengelenk wird erschwert.

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Auch diese Handhaltung ist fehlerhaft. Die Hand ist nach unten gedrückt. Korrekte halbe Paraden sind nicht möglich!

 

So ist es gut!

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Die Handhaltung hier ist korrekt. Eine gerade Linie vom Ellenbogen zum Pferdemaul. So kann der Reiter auch aus dem Ellenbogen gefühlvoll vorgeben.

 

 

Auf halbe Paraden kann man nicht verzichten! Alle zwei bis drei Tritte/Sprünge sollte man eine halbe Paraden geben. Halbe Paraden haben viele Aufgaben. Man braucht sie immer und überall. Vor dem Abwendungen, in der Wendung, vor, während und nach einer Lektionen, vor-, während und nach einer Verstärkung, für die Versammlung, zur Vorbereitung auf einen Sprung, zur Kontrolle des Tempos beispielsweise im Gelände usw. usw.