Braucht man Dehnungshaltung und Zügel aus der Hand kauen lassen?

Vor einigen Tagen wurde mir ein Link zu einem Post geschickt. Inhaltlich ging es darum, dass Zügel aus der Hand kauen lassen überflüssig sei und die Pferde dabei nur auf der Vorhand latschen. Dann wurde in epischer Breite auseinander dividiert, dass das Pferd durch sein Gebäude von Natur aus in Aufrichtung steht und geht. Das würde ja allein der Ansatz/Position des Halses schon beweisen und somit Vorwärts-abwärts und Dehnungshaltung als vollkommen überflüssig entlarven, da anatomisch nicht beweisbar.
Ich habe irgendwann aufgehört, diesen reiterlichen Unsinn weiter zu lesen…. Offensichtlich ist dieser Person die funktionelle Anatomie nicht geläufig…. Solch komplexe Zusammenhänge bedürfen allerdings auch komplexer Denkfähigkeiten, was wiederum nicht jedem liegt.
Richtig gerittenes Zügel aus der Hand führt immer zur Losgelassenheit und hält das Pferd gesund. Man muss es aber richtig reiten (können)…. Wenn jemand Zügel aus der Hand kauen lassen ablehnt, hat er es offensichtlich weder verstanden, noch kann er es reiten.
So einfach ist das!
Um überflüssige Diskussionen in Zusammenhang mit den folgenden Ausführungen zu vermeiden, betrachten wir das Zügel aus der Hand kauen lassen sowie Dehnungshaltung aus biomechanischer Sicht. Dazu finden sich im Text entsprechende Literaturhinweise, damit nicht der Eindruck entsteht, die Ausführungen seien aus der eigenen Interpretation entstanden….
Der Muskelaufbau!
Junge Pferde haben bekanntlich – da noch nicht viel geritten – wenig Muskulatur, um den Reiter zu tragen, den Kopf in der richtigen Position zu halten, die Hinterhandgelenke zu beugen, Last aufzunehmen oder Schub daraus zu entwickeln. Logisch! Dafür fehlt die Kraft und Elastizität! Die entwickelt sich nämlich erst im Laufe der Jahre durch eine korrekte und systematisch aufgebaute Ausbildung. Muskeln wachsen in Millimeterschritten und ebenso baut das Pferd Kraft auf.
Es ist also sinnvoll, dem jungen Pferd die Möglichkeit zu geben, seine Muskeln richtig aufzubauen und mit der Zeit beweglicher, elastischer, kraftvoller zu werden. Das geht natürlich nicht über Aufrichtung oder schon zu Beginn der Ausbildung über endlose Lektionen, Versammlung oder Verstärkungen, sondern über das korrekte Reiten der Remonte in Schritt, Trab, Galopp am besten erst einmal im Gelände geradeaus, auf einem großen Platz, über große gebogene Linien, häufige Handwechsel; alles im frischen Tempo vorwärts. Dabei den Zügel so lang gelassen, dass die Nase an die Senkrechte kommt (Dehnungshaltung) und die Pferde erst einmal lernen, sich loszulassen. Loslassen können sich Pferde hervorragend über richtig gerittenes Zügel aus der Hand kauen lassen. Darüber wird die Muskulatur entlastet und das Pferd trägt sich und den Reiter über Nackenband und Rückenband, die bei richtiger Dehnungshaltung und Nase an der Senkrechten Höhe Buggelenk durch den Zug nach vorwärts abwärts die Dornfortsätze aufrichten und so den Rücken heben. Den Rücken wollen wir in aufgewölbter Form sehen, denn dann kann das Hinterbein aktiv abfußen und weit unter den Schwerpunkt treten. Darüber werden die Grundgangarten mit der Zeit – sprich mit sich aufbauender Kraft und Muskulatur – ausdrucksvoller und raumgreifender.
Versammeln und Aufrichten sollte man in der Zeit – sprich, die ersten 1-2 Jahre – kein Pferd, denn kein Pferd hat die Kraft dazu. Es käme zu Überlastung verschiedener Strukturen, der Rücken würde durch die Fehlbelastung absinken, denn das junge Pferd müsste den Reiter über Muskeln tragen, die dafür nicht vorgesehen ist.
Zu den Muskeln, die nicht zum Tragen des Reiters vorgesehen sind steht an erster Stelle der lange Rückenmuskel (M. longissimus dorsi). Dieser Muskel ist ein reiner Bewegungsmuskel. Getragen wird der Reiter, wenn es richtig ist, über ein Bogen-Sehnen-Brücken-Konzept (Helle Katarine Kleven, Biomechanik und Physiotherapie für Pferde, S.54 ff., FN-Verlag, 2017, 4. Auflage). Dieses Konzept funktioniert allerdings nur, wenn wir a) eine Dehnungshaltung zulassen und b) das Pferd nicht permanent in Aufrichtung, c) zu kurzen Zügeln oder d) mit durchhängendem Zügel reiten, was verschiedene Reitauffassungen vertreten.
Abbildung/Illustration: Jeanne Kloepfer, Lindenfels; mit frdl. Genehmigung entnommen aus „Biomechanik und Physiotherapie für Pferde“ von Helle Katrine Kleven, FNverlag Warendorf 2017
Hinzu kommt, dass durch eine fehlerhafte oder zu frühe Aufrichtung Muskeln verspannen. Dazu gehören auch die stabilisierende Muskeln in der Tiefe, die zwischen den einzelnen Dornfortsätzen sitzen und unter anderem für die Reaktionsfähigkeit des Pferdes verantwortlich sind. Verspannen, verhärten und verkürzen sich diese Muskeln, dann wird das Pferd steif, die Reaktionsfähigkeit lässt vielfach nach. Dauerhafte Verspannungen sehen wir dann auch am langen Rückenmuskel, an den Lendenmuskeln und mit der Zeit an der Kruppe, den Sitzbeinmuskeln. Sie verändern sich auch optisch, verhärten, werden Druckempfindlich.
Jede wellige Oberlinie also immer ein Hinweis auf reiterliche Fehler. Diese Veränderungen führen zu Bewegungseinschränkungen und Blockaden, da ein verspannter Muskel auch ein verkürzter und weniger gut durchbluteter Muskel ist. Das endet in gesundheitlichen Problemen wie Kissing Spines, Sehnen- und Fesselträgerschäden etc. (siehe dazu Pferde-Osteopathie, Brigitte und Walter Salomon, Sonntag Verlag 2014, 3. Auflage).
Abbildung/Illustration: Jeanne Kloepfer, Lindenfels; mit frdl. Genehmigung entnommen aus „Biomechanik und Physiotherapie für Pferde“ von Helle Katrine Kleven, FNverlag Warendorf 2017
Diese Zeichnung zeigt die Tragfähigkeit des Pferdes. Durch die tiefe Einstellung des Pferdehalses (obere Zeichnung) kann das Pferd durch die aktive Hinterhand dank seiner Bandkonstruktion und Rumpfmuskulatur den Reiter tragen.
Die untere Zeichnung zeigt die Veränderung des Rückens bei hoch gehobenem Kopf. Das gleiche Bild zeigt sich bei durch reiterliche Einwirkung herbeigeführter absoluter Aufrichtung.
Verspannungen, Stress und das Immunsystem
Verspannungen und Schmerzen haben neben Auswirkungen auf die körperliche Entwicklung des Pferdes auch Auswirkungen auf die Psyche. Das Pferd hat Stress. Es fühlt sich unwohl, bekommt mit der Zeit vielleicht Angst. Viele Pferde reagieren widersetzlich, werden schreckhaft oder auch unberechenbar. Aus dem einstmals „coolen“ Partner Pferd kann ein unzuverlässiges und nicht mehr einzuschätzendes Wesen. Das wirkt sich auch auf das Immunsystem aus. Ein dauerhaft gestresstes Lebewesen hat einen dauerhaft gestressten Körper. Das heißt, die Abwehrkräfte können leiden, das Blutbild wird schlechter, das Pferd trotz guten Futter dünner und dünner.
„Verspannung führen zu (Muskel-)Schmerzen und damit zu Stress. Stress und Schmerz bedeutet, dass viele Neurohormone ausgeschüttet werden, welche das Immunsystem anders bzw. nicht mehr wie gewünscht arbeiten lassen. Daher ist es nicht auszuschließen, dass permanenter Schmerz und Stress die Reaktionsweisen auf Allergene oder Infektionserreger beim Pferd nachhaltig negativ beeinflussen. Chronischer Schmerz und Stress kann auch zu Verhaltensänderungen führen. Hier äußern sich ganz klar die intensiven Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Systemen im Körperbereichen wie dem Nerven- und dem Immunsystem. Manchmal steuern immunologische Vorgänge das Verhalten von Tieren und umgekehrt kann das Verhalten das Immunsystem beeinflussen. Reiterliche Fehler haben somit weitreichende Auswirkungen…“(Prof. Dr. Hans-Joachim Schuberth, AG Immunologie, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover)
Zusammenfassend:
Das heißt in der Zusammenfassung, dass ein Aufbau von Muskulatur erst einmal nur über das Vorwärts-abwärts Reiten erreicht wird. Unterstützend wirkt dabei, dass die Wirbelsäule in aufgewölbtem Zustand eine höhere Beweglichkeit hat, das Hinterbein weiter unter den Schwerpunkt tritt und so die Muskulatur gezielt gekräftigt, gedehnt wird und dadurch Mobilität, Stabilität und Kraft des Pferdes erhöht werden. Durch ein pferdegerechtes und systematisches Vorgehen bleibt das Pferd physisch und psychisch gesund!
Die Reiterin demonstriert eine fehlerhafte „Dehnungshaltung“. Das Pferd hebt sich heraus, drückt so den Rücken nach unten weg. Dadurch kann es den Rücken nicht mehr korrekt heben/aufwölben. Die Muskeln arbeiten nicht unverspannt.
Fehlerhaftes Zügel aus der Hand kauen lassen. Die Nase ist hinter der Senkrechten, das Pferd nimmt das Gebiss nicht an. Das Hinterbein tritt nicht durch.
Absolute Aufrichtung bei viel zu kurzem Zügel. Der Reiter lehnt sich mit klemmenden Oberschenkel zu weit nach hinten. Das Pferd ist verspannt. Nur ein in der Form verspannter Bewegungsablauf führt zu exaltierten Bewegungen. So bleibt kein Rücken gesund!
Korrekte relative Aufrichtung bei ausreichend langem Zügel. Das Pferd nimmt das Gebiss an, kaut zufrieden bei geschlossenem Maul und gibt den Rücken her.
Dehnungshaltung gilt immer!
Dehnungshaltung muss immer erreicht werden und zwar bei allen Übungen und Lektionen, in der Versammlung wie bei Verstärkungen (siehe „Bemerkungen und Zusammenhänge, Paul Stecken, FN-Verlag, 2015).
Über Dehnungshaltung gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen und Ideen. Die einen verstehen darunter einen nach vorne gestreckten Hals eines auf der Weide laufenden Pferdes. Andere verstehen darunter ein am Halfter an der Longe im Kreis laufendes Pferd, was den Kopf nach unten streckt und auf der Vorhand läuft. Richtige Dehnungshaltung wird allerdings dadurch erreicht, dass das Pferd aus der Hinterhand schiebend das Gebiss bei ausreichend langem Zügel annimmt und sich davon abstößt, so dass das Schub aus der Hinterhand von der gefühlvollen Reiterhand aufgefangen wird und so vom Gebiss wieder nach hinten geleitet wird.
„Die Hand fängt nur auf, sie hält niemals zurück.“ (Die reine Lehre der klassischen Reitkunst; Egon von Neindorff)
Lässt der Reiter die richtige Dehnungshaltung bei angenommenem Gebiss nicht zu, arbeiten Muskeln nicht richtig und das Pferd beginnt sich zu verspannen. Es kommt zu kompensatorischen Abläufen, da der enge Hals, der kurze Zügel oder auch die absolute Aufrichtung zu Bewegungen in Verspannungen zwingen, die eigentlich nicht mehr ausgeführt werden können. Damit leidet dann unter anderem auch der Rücken. Es stellen sich Muskelschmerzen, Verspannungen, Gleichgewichtsprobleme, Fehlbelastungen ein. Das führt zu dauerhaften Rückenprobleme und zu irreparablen Schädigungen des Pferdes.
Will man sein Pferd richtig Reiten, Ausbilden, es gesund erhalten und sein Vertrauen unter dem Reiter gewinnen, sind „ein Vorlassen des Halses“ (Paul Stecken), die damit verbundene Dehnungshaltung und Zügel aus der Hand kauen lassen unverzichtbar. Verspannungen und Schmerzen führen beim Pferd mit der Zeit Angst oder Widersetzlichkeit. Angst und Widersetzlichkeit heißen immer Vertrauensverlust.
Beim Reiten und Ausbilden eines Pferdes geht nichts ohne Konsequenzen: Wie würde Charles de Kunffy jetzt so schön sagen: „Die Reiterei kennt keine Kompromisse. Entweder man arbeitet aktiv daran, das Pferd zu fördern oder man arbeitet aktiv daran, es zu ruinieren…:“
Danke an Pferde-Osteotherapeut und Human-Osteotherapeut
Karsten Gemmeker für die fachliche Überprüfung des Artikels!
Liebe Frau Schmatelka
Wäre es möglich, dass Sie sich mit mir in Verbindung setzten? Ich habe ein Problem mit meinem Pferd und bräuchte dringend Hilfe.
Herzlichen Dank
Alexandra Marten
Ein super Beitrag, Danke dafür. Ich habe ihn auf FB geteilt und etliche Likes bekommen :).
Das Wissen zu Medizin ist zu umfassend, als dass es nur eine einzige Form geben kann.